Wer in letzter Zeit ein Handyspiel aus dem Appstore heruntergeladen und ausprobiert hat, kennt wahrscheinlich dieses Szenario: Überall sieht man sich füllende Fortschrittsbalken, für jede noch so kleine Aktion wird man mit Goldmünzen und mächtigen Gegenständen überschüttet und bei jedem Levelaufstieg blinkt der ganze Bildschirm farbenfroh während Fanfaren ertönen. So wird man permanent zum Weiterspielen angespornt, selbst wenn manchmal das eigentliche Spiel gar nicht so viel Spaß macht. Die Spieleindustrie nutzt dabei geschickt die Funktionsweise des menschlichen Gehirns, indem sie immer wieder unser Belohnungszentrum anspricht.
Diese Methoden können auch in einem unternehmerischen Umfeld genutzt werden, um die Motivation des Personals für wiederkehrende Tätigkeiten zu erhöhen und somit die Produktivität und Zufriedenheit zu steigern. Das Stichwort hierfür lautet „Gamification“ und beschreibt die Übertragung von Spieldesign auf eigentlich nicht spielerischen Kontext. Dieses Prinzip verändert bereits heute die Arbeitswelt, birgt jedoch so manche Gefahren, die bei falscher Anwendung sogar das genaue Gegenteil bewirken können.
In diesem Nachgelesen erfahren Sie,
- welche Psychologie hinter Gamification steckt,
- was intrinsische und extrinsische Motivationsfaktoren sind,
- wie Sie Gamification mithilfe künstlicher Intelligenz praktisch umsetzten können und zugleich einer erhöhten Fehlerquote entgegenwirken.
Die Psychologie hinter Gamification
Das einleitende Beispiel ist längst kein Einzelfall mehr. In der Spieleindustrie arbeiten nicht mehr nur Programmierer:innen, sondern auch Psycholog:innen daran, ein möglichst motivierendes Spiel auf den Markt zu bringen, welches uns lange Zeit fesselt und damit den finanziellen Erfolg sicherstellt. Die zugrunde liegenden Prinzipien werden „intrinsische Motivation“ und „extrinsische Motivation“ genannt und stammen aus der Verhaltensforschung (Abbildung 1).
Die intrinsische Motivation beschreibt den Spaß an einer Tätigkeit an sich, den eine Person innerlich empfindet, wenn sie beispielsweise Fußball spielt oder auch den inneren Antrieb ein selbst gestecktes Ziel zu erfüllen. Die extrinsische Motivation kommt hingegen von außen in Form von Belohnungen. Im Falle des Fußball-Beispiels könnten dies Gehaltszahlungen sein (bei professionellen Teams), ein Lob des Trainers oder der Jubel des Publikums nach einem Tor. Die Empfänglichkeit für extrinsische Motivationsfaktoren ist sehr individuell. Ebenso subjektiv ist die Empfänglichkeit, ob eine Person überhaupt eine intrinsische Motivation empfindet und wenn ja, für welche Tätigkeiten oder Ziele. Der größtmögliche Ansporn entsteht natürlich dann, wenn mehrere Motivationsfaktoren zusammenkommen. Also im „Extremfall“, wenn jemand sowieso am liebsten den ganzen Tag kickt, zusätzlich dafür ein Millionengehalt bekommt, gerade fünf Tore geschossen hat und das Publikum den Namen skandiert.
Intrinsische Motivationsfaktoren im Industrieumfeld
In einem Industrieunternehmen sind solche Umstände leider eher selten, aber auch dort kann der Gamification-Ansatz für einen Motivationsschub sorgen. Wie könnte dieser konkret aussehen? Bezüglich der intrinsischen Motivation sind die Möglichkeiten teilweise eingeschränkt, da die typischen Tätigkeiten an sich oftmals nur den Wenigsten Spaß bereiten. Dazu müsste mehr Kreativität eingebracht werden können, mehr persönliche Weiterentwicklung möglich sein und die einzelnen Arbeitsschritte dürften sich weniger oft wiederholen. In wirtschaftlicher Hinsicht ist dies in der Regel nicht umsetzbar.
Stattdessen können andere intrinsische Motivationsfaktoren wie Rekordwettbewerbe eingesetzt werden, bei denen es zum Beispiel darum gehen kann, an Arbeitsstation X das Produkt Y in einer möglichst kurzen Zeit zusammenzubauen oder eine möglichst hohe Stückzahl zu schaffen. Ein firmeninterner Wettstreit um die Bestzeiten kann einen Teil der Arbeitenden enorm anspornen. Allerdings gibt es bei solchen Ranglisten immer auch Personen auf der Verliererseite. Gleichzeitig wird also ein Teil der Belegschaft enorm demotiviert und im schlimmsten Fall gibt es sogar Spott und Häme, was den sozialen Zusammenhalt unter den Angestellten stört.
Aus diesem Grund ist es sinnvoller, Rekorde auf persönliche Bestleistungen zu beschränken. Auch das Überschreiten eines vorgegebenen Tagesziels oder das Brechen der Rekordzeit von letzter Woche können eine starke intrinsische Motivation darstellen, wenn sie visuell ansprechend präsentiert werden. Wichtig an dieser Stelle ist, dass stets eine Rückmeldung zum aktuellen Status verfügbar ist – beispielsweise was ist das aktuelle Tagesziel, wie weit ist man davon entfernt, wo liegt die durchschnittliche Zeit pro Teil, was sagt die Stoppuhr und wo liegt die aktuelle Rekordzeit.
Extrinsische Motivationsfaktoren im Industrieumfeld
Bezüglich der extrinsischen Motivation steht im Industriekontext eine breite Palette von Möglichkeiten zur Verfügung. Diese umfassen unter anderem Bildschirmanimationen und Audio-Feedback, ähnlich der zu Beginn angesprochenen Handyspiele, welche das Belohnungszentrum des Gehirns ansprechen. Sich füllende Fortschrittsbalken und auffällige Animationen oder Musik wirken dabei deutlich stärker als Symbole, deren Farbe lediglich von Rot auf Grün wechselt. Optional sollten alle Gamification-Elemente abschaltbar sein, da sie auf Dauer von manchen Personen als störend empfunden werden könnten.
Des Weiteren könnte das Personal Punkte sammeln für den Abschluss gewünschter Tätigkeiten, wie etwa die fehlerfreie Fertigstellung eines zu montierenden Bauteils. Andererseits sollten dabei für Fehler jedoch keine Punktabzüge gegeben werden, da diese Frustration hervorrufen, die der Motivationssteigerung entgegenwirken. Sinnvollerweise sollten die angesammelten Punkte für individuelle Vorteile eingelöst werden können. Denkbar wären hier mehrere Belohnungsstufen – von Snacks aus dem Automaten über Sachpreise bis hin zu zusätzlichen Urlaubstagen. Darüber kann auch ein Lenkungseffekt erzielt werden, um Engpässe in der Produktion auszugleichen. Wenn zum Beispiel spontan ein Flaschenhals an einer bestimmten Arbeitsstation entsteht, kann ein zeitlich begrenzter Punktemultiplikator an dieser Station für zusätzlichen Ansporn sorgen und das Arbeitstempo des Personals beschleunigen. Das gleiche Prinzip kann für eine bessere Motivation zu Feiertags- oder Wochenendarbeit sowie Nachtschichten eingesetzt werden.
Wie bereits angesprochen ist es wichtig, dass stets relevante Informationen zum aktuellen Status (etwa Ziele, Rekorde, aktuelle Stückzahl sowie Zeit) verfügbar sind und visuelle Animationen abgespielt oder erhaltene Punkte angezeigt werden können. Aus diesem Grund ist der Einsatz von Gamification besonders an Arbeitsplätzen sinnvoll, an denen ein Bildschirm zum Einsatz kommt und wo kein Roboter die monotone Tätigkeit durchführen kann.
Gamification und künstliche Intelligenz
Viele Rekorde und Belohnungen zielen automatisch auf ein höheres Arbeitstempo ab. Damit dabei nicht ungewollt die Fehlerquote durch die Decke schießt, ist eine Kombination mit einer künstlichen Intelligenz (kurz „KI“) sinnvoll. Diese kann zum Beispiel an einer Montagestation Fehler beim Zusammenbau automatisch erkennen und über eine Bildschirmanzeige unmittelbar darauf hinweisen. Der Fehler fällt also sofort auf und nicht erst Tage später, wenn die Bauteile in der Abteilung für Qualitätskontrolle angekommen sind. So kann es nicht passieren, dass mehrere Produkte unwissentlich falsch zusammengebaut wurden. Somit muss weniger nachgearbeitet werden und es entsteht kein zusätzlicher Frust. Außerdem wird weniger Personal für die Kontrollarbeiten gebunden.
Vorgestellt: Demonstrator eines KI-Assistenzsystems
Der Demonstrator „Assistenzsysteme mit Erfolgskontrolle durch KI“ aus dem Mittelstand-Digital Zentrum Chemnitz veranschaulicht solche KI-Lösungen für die Unterstützung bei der Montage von Baugruppen am Beispiel von Spielzeugfahrzeugen (Abbildung 2). Die Mitarbeitenden können sich mithilfe eines persönlichen Transponders an der Arbeitsstation einloggen. Anhand des darauf gespeicherten Qualifizierungsgrades der jeweiligen Personen werden die verschiedenen Assistenzsysteme des Demonstrators aktiviert oder deaktiviert.
Das Assistenzsystem führt ungeübte Mitarbeitende Schritt für Schritt durch den Montageprozess (Abbildung 3). Es zeigt auf dem Bildschirm ein Bild des zu fertigenden Spielzeugautos mit den einzelnen Arbeitsanweisungen. Eine aufleuchtende LED unterhalb des jeweiligen Behälters kennzeichnet gleichzeitig, wo das benötigte Bauteil entnommen werden kann. Sobald die Lichtschranke am Behälter bei der Entnahme zwangsläufig durchbrochen wird, erhält das System eine Information über die Bauteilentnahme.
Der Zusammenbau an sich erfolgt mit Hilfe einer Vorrichtung in einem abgegrenzten Montagebereich. Dort wird durch die Projektion eines Beamers von oben die Position des zu montierenden Bauteils gekennzeichnet. Die korrekte Positionierung wird nach jedem Arbeitsschritt durch eine kamerabasierte KI mit Objekterkennung überprüft. Der Mitarbeitende erhält dazu sofort eine Rückmeldung durch ein Tonsignal sowie eine Bildschirmanzeige. Die KI-Überprüfung dauert einige wenige Sekunden nach jedem Arbeitsschritt und verlängert damit geringfügig die benötigte Arbeitszeit. Das Gefühl ausgebremst zu werden, kann sich negativ auf die Motivation von erfahrenen Mitarbeitenden auswirken, für die daher ein zusätzlicher Expertenmodus entwickelt wurde.
Im Expertenmodus sind die Lichtsignale und die Einzelschrittüberprüfung durch die KI deaktiviert. Es wird nur das benötigte Spielzeugfahrzeug auf dem Bildschirm dargestellt, welches dann eigenständig von der Bedienperson zusammengebaut wird. Die Qualitätskontrolle durch die KI findet einmalig am Ende des Montageprozesses statt. Bei einem Fehler wird das betreffende Bauteil auf dem Bildschirm gekennzeichnet, so dass die Bedienperson sofort weiß, wo nachzubessern ist. Eine lange Fehlersuche entfällt.
Der Demonstrator zeigt, wie Mitarbeitende unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation selbstständig den Montageprozess erlernen bzw. durchführen können. Durch die visuelle Anzeige von Entnahmeort und Montageposition sparen sie Zeit, weil keine langen Teilelisten mehr abgearbeitet werden müssen.
Erweiterung der KI-Demonstrators um Gamification-Komponente
Dieses KI-basierte System ist hervorragend für die Erweiterung um eine Gamification-Komponente geeignet (Abbildung 4). Denn die nötige Hardware, wie etwa Bildschirm, Lautsprecher und Rechentechnik ist bereits vorhanden. Lediglich die zusätzliche Software muss noch programmiert werden.
Geplant sind zusätzliche Anzeigen auf dem Bildschirm mit den persönlichen Rekordzeiten für den zu montierenden Fahrzeug-Typ, jeweils für den aktuellen Tag, Woche, Monat und den eigenen Allzeitrekord. Der eigene intrinsische Antrieb, diese Rekorde zu brechen, wird durch Bildschirmanimationen und Tonsignale verstärkt. Zusätzlich soll es möglich sein, die abgeschlossene Stückzahl bis zum Tagesziel anhand eines sich füllenden Fortschrittsbalkens nachzuverfolgen.
Des Weiteren sollen die Mitarbeitenden Punkte sammeln können für jeden richtigen Montageschritt. Geplant sind zudem Bonuspunkte für eine hohe Geschwindigkeit, was sich positiv auf die Produktivität auswirkt. Gleichzeitig erfolgt weiterhin die unmittelbare Kontrolle durch die kamerabasierte KI, sodass Montagefehler sofort erkannt werden und die Fehlerquote durch das schnellere Arbeitstempo nicht ansteigt. Der Expertenmodus soll ab einer gewissen Punktschwelle individuell freigeschaltet werden. Dies sorgt für eine zusätzliche intrinsische Motivation der Mitarbeitenden, denn mit dem Erreichen der Schwelle lassen sich Punkte schneller sammeln und Zwischenschrittkontrollen entfallen. Die gesammelten Punkte können für kleine und große Belohnungen wie Snacks, Sachpreise oder Urlaubstage eingelöst werden, die eine starke extrinsische Motivation darstellen.
Fazit
Die vorhandene KI-Erfolgskontrolle des Demonstrators unterstützt bei der Schulung des Personals und reduziert die Fehlerquote. Zusätzlich schafft der geplante Gamification-Ansatz starke Motivationsfaktoren und sorgt für mehr Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei gleichzeitig erhöhter Produktivität. Sofern sich dieser Ansatz in Industrieunternehmen durchsetzt, werden Handyspiele wahrscheinlich seltener während der Arbeitszeit gespielt – weil es dann die Arbeit an sich ist, die mehr Spaß macht.
Quellen und weiterführende Informationen
- Becker, F. (2019). Intrinsische und extrinsische Motivation. In: Mitarbeiter wirksam motivieren. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57838-4_16
- Ferlin, Siegfried (2017): https://www.dermotivator.at/deine-downloads [abgerufen am 28.11.2022]
- Folz, Martin; Baumgärtel, Franziska (2022): Assistenzsysteme mit Erfolgskontrolle durch KI. In: ZWF Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb. DE GRUYTER, 117.2022, 6, S. 423-426, ISSN: 0947-0085, DOI: 10.1515/zwf-2022-1075
- Osterloh, M., Gerhard, B. (1992). Neue Technologien, Arbeitsanforderungen und Aufgabenorientierung: Zum Verhältnis von intrinsischer und extrinsischer Motivation. In: Lattmann, C., Probst, G.J.B., Tapernoux, F., Norek, C., Siemers, S.H.A. (eds) Die Förderung der Leistungsbereitschaft des Mitarbeiters als Aufgabe der Unternehmensführung. Management Forum. Physica, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-52085-3_5
- Sailer, M. (2016). Wirkung von Gamification auf Motivation. In: Die Wirkung von Gamification auf Motivation und Leistung. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14309-1_4
- Seiffert-Brockmann, J. (2021). Gamification in der Mitarbeiterkommunikation. In: Einwiller, S., Sackmann, S., Zerfaß, A. (eds) Handbuch Mitarbeiterkommunikation. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23152-1_37